Die Geschichte des sozialen Schutzes
1890 bis 1912 im Vergleich zu 1990 bis 2012
Nach der Choleraepidemie in Hamburg wurde eine groß angelegte Sanierung in der inneren Stadt vollzogen. Sie wurde ab 1900 in mehreren Schritten realisiert und hat das Bild der Stadt grundlegend verändert. Zu den drei Sanierungsgebieten gehörte neben der Altstadt (Bezirk I) auch die südliche Neustadt (Bezirk III). Hier waren die Bedingungen am Ende des 19. Jahrhunderts besonders schlecht, weshalb man sich entschloss, diese bei der Sanierung vorrangig zu behandeln, »weil hier durch die jeweiligen Überschwemmungen der Keller besondere Übelstände bestehen.« 1
Eine Frage, die sich früh stellte, war, wie mit der angestammten Bevölkerung bei der Sanierung umgegangen werden sollte. Eine für den »Ersatzwohnungsbau« beauftragte Kommission beschrieb ihre Ziele als »die Beseitigung ungesunder Wohnungen und den Neubau von Wohnungen für dieselbe Bevölkerungsklasse an der alten Stelle« 2. Um diese Bevölkerungsklasse und die Lage besser einschätzen zu können, wurde ein »Statistisches Büro der Steuerdeputation« mit einer Untersuchung über die Arbeitsstellen der Inhaber kleiner Wohnungen in den drei Sanierungsgebieten beauftragt. Dieses stellte in seinem Bericht 1899 fest, dass ein Großteil der Sanierungsbevölkerung in ihrem Bezirk selbst, in der inneren Stadt oder aber im Hafen arbeitet. Somit war also eine Mieterschaft im Gebiet definiert, die arbeitsplatznah wohnte und zudem auf diese Nähe und Erreichbarkeit angewiesen war. Dies ist vor allem verständlich, wenn man bedenkt, dass von dieser Gruppe alle Wege zu Fuß zurückgelegt werden mussten.
Man war bestrebt, diesen Sanierungsbetroffenen Ersatzwohnraum in ihrer angestammten Nachbarschaft zur Verfügung zu stellen. So galt: »der Grundeigentümer hat bei der Vermietung solche Mieter vorzugsweise zu berücksichtigen, welche in einem für die Zwecke der Sanierung abzubrechenden Gebäude wohnen« 3.
Als dann mit der Sanierung begonnen wurde und die ersten »Ersatzwohnungen« fertig gestellt waren, stellte sich jedoch heraus, dass diese für die unregelmäßig beschäftigten Hafenarbeiter zu teuer waren. So galten sie zwar als gut gelungen, gut ausgestattet, ja sogar als »herrlich«, für die angestammte Wohnbevölkerung waren sie jedoch unbezahlbar.
Festgestellt wurde außerdem, dass »die Zahl der im Sanierungsgebiet neu hergestellten Wohnungen erheblich geringer ist als die der beseitigten, so daß eine allgemeine Mietsteigerung der Wohnungen in den südlichen Stadtteilen nicht ausgeschlossen ist.«4. Bereits die erste Sanierungsphase hatte eine unbestreitbare Verdrängung und Verschlechterung der Lage für einen Teil der Wohnbevölkerung zur Folge:
»Für eine erhebliche Zahl der früheren Bewohner des Sanierungsbezirkes scheint demnach die Sanierung mit wirtschaftlichen Nachteilen verbunden zu sein, sei es, daß sie eine teurere Wohnung nehmen oder in die Vororte ziehen mußten, entfernt von ihrer Arbeitsstätte, die nur mit Unkosten zu erreichen ist.«5
So ist entgegen dem ursprünglichen Ziel, der Schaffung von »Wohnungen für dieselbe Bevölkerungsklasse an der alten Stelle«, »nur der Bau von Wohnungen für die wohlhabendere Arbeiterklasse auf dem selben Areal«6 begünstigt worden.
War diese Entwicklung nicht abschätzbar gewesen? Warum hatte man auf eine Festsetzung der Miethöhen verzichtet? Die Sanierungskommission dachte, »die Mieten der zu errichtenden Wohnungen würden sich von selbst innerhalb der für solche Wohnungen ortsüblichen Grenzen halten«7. Sollten »die Preise derselben für die aus den abgebrochenen Häusern dislozierten Mietern zu hoch sein..., so würden andere, finanziell besser situierte Mieter diese neu errichteten Wohnungen beziehen«, waren sich die Verantwortlichen sicher.8 Ein Problem wurde hierbei nicht gesehen, denn: »die bisher von denselben [den verdrängenden Bessergestellten] benutzten Wohnungen würden für die weniger bemittelten Mieter aus der Abbruchgegend freiwerden«9 und es würde sich also schlimmstenfalls im Stadtteil eine Art Umverteilung vollziehen. Man empfand diese als Verdrängung offenkundige Praxis nicht als verwerflich und sah den Staat hier nicht in der Pflicht. Er habe »nur dafür zu sorgen, daß überhaupt kleine Wohnungen zum Ersatz für die abzubrechenden erbaut werden« und da dies geschehe: »könne es den zu dislozierenden Bewohnern überlassen bleiben, sich ihren Verhältnissen entsprechend in den vorhandenen Wohnungen zu verteilen«10.
Bereits die Bebauung des Ledigenheims 1912, ebenfalls in der südlichen Neustadt, geschah – unter strikteren Auflagen – im Schatten dieser Ereignisse. Im Kaufvertrag zwischen dem Bauverein und der Stadt Hamburg wurde im Gegensatz zur früheren Praxis festgelegt, dass bestimmte Mietobergrenzen 20 Jahre und länger nicht überschritten werden dürfen: »Sollte der Bauverein die Mieten nach Ablauf der 20 Jahre um mehr als 10 Prozent erhöhen oder sollte er das Grundstück vor Ablauf von 20 Jahren verkaufen« müsste er »eine Nachzahlung in der Höhe des Kaufpreises leisten. Mit diesen Regelungen sollten die Bewohner der kleinen Wohnungen langfristig mit relativ gleich bleibenden Mieten rechnen können. Untervermietungen von Teilen der Wohnungen an nicht zur Familie des Wohnungsinhabers gehörige Personen waren unzulässig.«11
»Die Aftervermietung einzelner Teile einer Wohnung darf der Grundeigentümer überhaupt nicht gestatten«.12
Ein ausschlaggebender Grund dafür, dass der »Bauverein zu Hamburg« den Zuschlag der Stadt für das Grundstück erhielt, lag mit großer Wahrscheinlichkeit darin, dass dieser einen zweiten Planungsentwurf im August 1912 eingereicht hatte, welcher nun auch die Errichtung eines Heims für ledige Arbeiter, das »Ledigenheim«, vorsah.
Die ledigen Arbeiter stellten einen Großteil sowohl der angestammten Wohnbevölkerung, als auch der Wohnungssuchenden dar. Und das Ledigenheim war eine ausgezeichnete Möglichkeit, den vielen Menschen in dieser Gegend eine arbeitsplatznahe Unterbringung zu stellen. Dies kam auch den Sanierungszielen der Stadt entgegen, wünschte man sich doch, der als unsittlich empfundenen Untervermietungsstrukturen im Stadtteil zu begegnen.
Bei den Ausführungen dieser geschichtlichen Verläufe fühlt man sich nicht nur an die jüngeren Entwicklungen im Stadtteil, sondern auch an die Zielsetzung der aktuell in der südlichen Neustadt geltenden, sozialen Erhaltungsverordnung erinnert. Die seit 1995 geltende Verordnung – § 172 BauGB Satz 1 Nr. 2 – besagt, dass es die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung in der südlichen Neustadt zu erhalten gilt. Ähnlich wie in den Zielen der Kommission in den späten 1890er Jahren formuliert, soll die Erhaltungsverordnung 100 Jahre später die angestammte Wohnbevölkerung in der südlichen Neustadt wieder vor der Verdrängung schützen. Diese Verordnung ist unbefristet gültig, muss aber alle fünf Jahre einer Überprüfung unterzogen werden, wobei 2013 die nächste Überprüfung ansteht. Neben der sozialen Erhaltungsverordnung gilt in der südlichen Neustadt auch eine Umwandlungsverordnung, welche die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungenuntersagt. Über ihre Weiterführung wird ebenfalls 2013 entschieden. Die beiden Verordnungen waren im Übrigen auch die Grundlage für die Ablehnung der Umbaupläne des dänischen Investors für das Ledigenheim. Doch auch diese soziale Erhaltungsverordnung hat ihre Grenzen: »Eine Milieuschutzverordnung führt dazu, dass »der Rückbau, die Änderung oder die Nutzungsänderung baulicher Anlagen der Genehmigung bedürfen, (...) wenn die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung aus besonderen städtebaulichen Gründen erhalten werden soll«13. Da der Milieuschutz im Baugesetz verankert ist, greift er ausschließlich im Zusammenhang mit Baumaßnahmen. Auf Mieterhöhungen nach dem Mietspiegel sowie auf Mietsteigerungen bei Neuvermietungen hat das Instrument Milieuschutz keinen Einfluss.«14
Auch hier ergeben sich wieder Entsprechungen zu früheren staatlichen Maßnahmen zum Schutze der Bevölkerung. Zwar hatte man sich die Aufgabe gestellt, die sozialen und hygienischen Bedingungen der Menschen zu verbessern und in dieser Hinsicht auch viel erreicht, jedoch gehörten zu den Maßnahmen, und das ist die Kehrseite, auch eine große Zahl von Enteignungen und eine Zentralisierung der Eigentumsstruktur auf wenige Großakteure. Durch den neuen Baustil und die neuen hygienischen und sozialen Standards kam es zudem auch zu einer Verringerung der Gesamtbewohnerzahl in der Neustadt.
Heute findet ebenfalls, trotz der Auflagen der sozialen Erhaltungsverordnung, eine sukzessive Aufwertung und Verdrängung, mindestens aber eine schleichende Mieterhöhung statt. Trotz der sozialen Erhaltungsverordnung bestehen kaum Möglichkeiten, gegen Wuchermieten anzugehen. So wird im Ledigenheim eine Nettokaltmiete von ca. 24 Euro pro m2 bei Neuvermietungen verlangt. Und das, obwohl das Haus Wohnraum für »dringlich« Wohnungssuchende zu fairen Bedingungen, günstige Mieten und umfangreiche Service-Leistungen bieten sollte.
Dies ist möglich, weil die soziale Erhaltungsverordnung in der Regel vom »Ist-Zustand« ausgeht und nur grobe Einschnitte verhindern kann. »Wenn man sich die Instrumente der sozialen Erhaltungsverordnung ansieht, kann man erkennen, dass Neuvermietungen nicht erfasst sind. Auch Mietsteigerungen durch die Anpassung an die ortsübliche Vergleichsmiete spielen hier keine Rolle. Folglich kann diese Verordnung das Mietniveau in einem Quartier nicht einfrieren. Allerdings können Umwandlungen wie in der Hamburger Neustadt auf 0% gesenkt werden. Darüber hinaus könnte das Vorkaufsrecht dazu führen, dass Häuser auch langfristig als Miethäuser von Genossenschaften mit moderaten Mieten dem »Milieu« – also der angestammten,einkommensschwachen Bevölkerung – zur Verfügung gestellt werden. In Hamburg-Neustadt am Hafen, auch »Portugiesen-Viertel« genannt, wurden im Zeitraum 1994 bis 1997 insgesamt 75 Wohnungen umgewandelt. Von 1998 bis 2001 wurde dagegen keine Umwandlung mehr vorgenommen. Das ist umso erstaunlicher, da der Verlag »Gruner und Jahr« dorthin seinen Sitz verlagerte und eine Vielzahl Journalisten und Verlagsmitarbeiter ins Viertel zogen.«15
Die soziale Erhaltungsverordnung scheint demnach kein Instrument zu sein, mit dem schleichende Prozesse wie Mietsteigerungen erfasst und verhindert werden können. Dies wird gerade dann schwierig werden, wenn die Wohnbevölkerung von derzeit ca. 12.000 Personen in der Neustadt, wie von der Stadt vorgesehen, um mehrere Hundert bis mehrere Tausend anwachsen wird. Die Wirksamkeit dieses Instruments wird sich letztlich auch daran zeigen, ob es gelingt, die vorhandene Wohnbevölkerung zu schützen und zu verhindern, dass der Zuzug nur zu hochpreisigen Mieten stattfindet und ob Zuziehende günstigen Wohnraum und ein ansprechendes Wohnumfeld sowie eine entsprechende Nahversorgung vorfinden.
Quellen:
1, 7, 8, 9, 10 - StAHH, CVW 353-1, 13 Bd. 1. (Staatsarchiv Hamburg)
2 - StAHH, CVW 353-1,14, S. 5
3, 12 - Grosz, Heinrich, Die Geschichte der Deutschen Schiffszimmerer und der Entstehung der Allgemeinen Deutschen Schiffszimmerer-Genossenschaft (E.G.m.b.H.) mit besonderer Berücksichtigung der hamburgischen Verhältnisse: Hamburg 1907, S. 210
4, 5 - StAHH, CVW 353-1, 50
6 - Fuchs, C.J., Zeitschrift für Wohnungswesen 1905/21, S. 279
11 - Walden, Hans, Denkmalschutzantrag: Block Rehhoffstraße/Herrengraben/ Pasmannstraße
13 - § 172 BauGB
14, 15 - Christiane Hollander: Ein scharfes Schwert – Milieuschutz in Hamburg. Schutz für Mieter/innen durch soziale Erhaltungsverordnungen und durch Umwandlungsverordnungen, in: MieterEcho 348, Juli 2011, auf: http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2011/348.html