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100 Jahre Wohnen im Ledigenheim

Einführung

Sowohl die Sozialgeschichte (etwa Werner Conze in seinem klassischen Aufsatz ›Vom Pöbel zum Proletariat‹) als auch die demographische Theoriebildung (etwa durch Gerhard Mackenroth) gehen von der Annahme aus, dass Wirtschaft und Bevölkerung in der Vormoderne so aufeinander abgestimmt gewesen waren, dass es Familien ohne sichere Existenzgrundlage nicht geben konnte und dass einzelne Menschen durch die Familie versorgt wurden. Erst durch die Auflösung der alten Ordnung, sagen wir ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, hat eine Überschwemmung der Gesellschaft durch proletarische Massen gedroht, zu einem Zeitpunkt als der Industrialisierungsprozess, die traditionelle Rolle der Familie zunehmend unterminierte. Gleichzeitig haben die ansteigenden Wanderungsbewegungen andere schwerwiegende Probleme in der Welt entstehen lassen. Wie sollten der Staat oder die städtischen Behörden das Einströmen von einzelnen arbeitssuchenden Menschen kontrollieren? Unter welchen Bedingungen war es möglich, eine passende Unterkunft für alleinstehende Menschen zu finden? Und wie konnte die Gesellschaft im allgemeinen die Aktivitäten von Durchreisenden einigermaßen gestalten, um die gegebenen klassenspezifischen Strukturen aufrecht zu erhalten? Dieser Vortrag wird versuchen, einen Teil der zeitgenössischen Reaktion auf diese Probleme zu diskutieren, nämlich die Gründung von Wohnheimen für Arbeiter und durchreisende Männer, die von dem etablierten Häusermarkt ausgeschlossen waren. Wir feiern in diesem Jahr den 100. Jahrestag der Eröffnung des Hamburger Ledigenheims im Jahre 1912 und in diesem Zusammenhang scheint es angebracht zu sein, die Rolle dieser Einrichtung bei der Versorgung von Durchreisenden und Alleinstehen im internationalen Vergleich zu analysieren; also nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit, sondern auch als ein Beispiel für die zukünftige Betreuung von Obdachlosen und notleidenden Arbeitern.
Zuerst müssen wir leider zugeben, dass diese traditionelle Interpretation der vormodernen Vergangenheit nicht gerade stichhaltig ist. Auch die vormoderne Welt war weniger stabil und gleichzeitig beweglicher als manche Historiker behauptet haben. Die Rolle der Familie als Grundstein der Gesellschaft war etwas weniger ausgeprägt. Die ländlichen Familienverhältnisse, auch hier in den deutschen Ländern, waren durch eine konkrete Formenvielfalt gekennzeichnet und verhältnismäßig viele Leute, wie zum Beispiel unverheiratete Erwachsene und ältere Einwohner, waren nicht notwendigerweise Mitglieder einer sogenannten Kernfamilie. Auch die räumliche Wanderung, sowohl alters- als auch saisonbedingt war erheblich größer als angenommen. Sie lief zum größten Teil geregelt ab, wobei die Zunfthäuser in manchen Fällen
feste Übernachtungsmöglichkeiten für durchreisende bzw. arbeitssuchende Gesellen angeboten haben. In manchen Hafenstädten führte jedoch die wirtschaftliche Blüte im Zuge des sich ausweitenden Seehandels zu einem beträchtlichen Bevölkerungswachstum und machte diese Städte zu einem Kernelement im europäischen Urbanisierungsprozess. In England und Wales zum Beispiel verzeichneten die Hafenstädte, neben den industriellen Zentren des Nordens, das stärkste Bevölkerungswachstum. Liverpool entwickelte sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts von einer kleinen, relativ unbedeutenden Siedlung am Ufer des Mersey, zu einer der größten Städte Englands. Die Lage in anderen Ländern Europas war ähnlich. Mit Ausnahme von Madrid lagen alle Großstädte Spaniens an der Küste und mit dem Aufstieg Barcelonas zum Welthafen stieg deren Einwohnerzahl um mehr als das Doppelte. Im Urbanisierungsprozess Italiens spielte die Küstenlage ebenfalls eine wichtige Rolle: Genua verzeichnete nach der Mitte des 19. Jahrhunderts eine drastische Bevölkerungszunahme und Neapel war am Anfang des 20. Jahrhunderts die größte italienische Stadt überhaupt und gleichzeitig ein wichtiger Auswanderungshafen. Auch in Frankreich spielte der Seehandel eine Schlüsselstellung im Urbanisierungsprozess: Le Havre wuchs um den Faktor 8.4 von ungefähr 19.000 Einwohnern im Jahre 1811 auf über 160.000 Einwohner hundert Jahre später und Marseille von 78.000 auf nahezu eine halbe Millionen. Aus gesamteuropäischer Perspektive waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu 40 Prozent aller Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern Seehäfen und erst zur Mitte des 20. Jahrhunderts traten sie ihre dominierende Rolle an die Industriestädte ab.

Viel wichtiger für die heutige Analyse ist die Tatsache, dass Migrationsbewegungen ein Kernelement der demografischen Entwicklung gewesen sind. Angezogen durch die Aussicht auf Arbeit und mehr Wohlstand strömten Massen in die Hafenstädte. Zur Hauptgruppe zählten dabei junge ledige Männer, die sich im Hafengebiet Arbeitsmöglichkeiten versprachen. In Liverpool belief sich der Anteil der Einwanderung auf Spitzenwerte von bis zu 80 Prozent des Gesamtwachstums, obwohl für den gesamten Zeitraum 1851 bis 1911 die Rolle des natürlichen Zuwachses etwas wichtiger gewesen war. Sowohl Glasgow als auch Genua wuchsen hauptsächlich durch Einwanderung. Auch in Deutschland war der Anteil von Zuwanderung zum Bevölkerungswachstum in Hafenstädten überproportional. In Hamburg war zwischen 1871 und 1910 60 Prozent der Bevölkerungszunahme eine direkte Folge der Einwanderung, die auch im Falle Bremens, besonders am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts, ausschlaggebend gewesen war.
Dazu muss man betonen, dass als Folge der spezifischen Wirtschaftsentwicklung Einwanderer in fast allen Arbeitsbereichen zu finden waren, allerdings in einer höchst differenzierten Weise. 64 Prozent der Reedereibesitzer waren in Bremen geboren, aber nur eine kleine Zahl von Beamten bei der Bahn und der Post (18 Prozent) waren gebürtige Bremer, während 82 Prozent der Arbeiter im Hotel- und Gaststättengewerbe außerhalb der Hansestadt geboren waren.
Auf Grund ihrer internationalen Verkehrsverbindungen spielte Fernwanderung hier eine größere Rolle als in anderen Städten Europas. Diese führte eine Vielzahl unterschiedlicher Nationalitäten und ethnischer Gruppen in die Hafenstädte, was wiederum ihre allgemeine Attraktivität steigerte und damit Verstärkereffekte für weitere Zuwanderungen hatte. In Marseille zum Beispiel waren unter den Einwanderern mehr Ausländer als Franzosen und sowohl Genua und Trieste beherbergten Einwanderer aus dem gesamte Mittelmeerraum. In Liverpool stellten die Iren den größten Anteil und nahezu ein Viertel der Bevölkerung war irischen Ursprungs. Aus anderen europäischen Staaten fanden sich Norweger und Schweden am häufigsten, aber auch Deutsche, hauptsächlich aus Norddeutschland und Württemberg, waren stark vertreten. Dazu kamen im Laufe der Zeit West-Afrikaner, Inder, Westinder, Malayen und Phillipinos. Eine besonders große Gruppe bildeten die Chinesen, die sich bereits im 19. Jahrhundert, aber vor allem während des Zweiten Weltkrieges, in Liverpool ansiedelten.
Bedingt durch die Gelegenheitsarbeit als dominierende Komponente waren diese Wanderungen starken saisonalen Schwankungen unterworfen. Ständige Zu- und Abwanderungen sorgten für eine relativ instabile Einwohnerschaft. Dies wurde verstärkt durch die sogenannte ›Gateway‹-Funktion der Hafenstädte: das heißt, anderen Migranten sollten die Hafenstädte lediglich als Durchgangsstation für weiterführende Wanderungen dienen. Von den 5.5 Millionen Emigranten, die zwischen 1819 und 1859 nach den USA und Kanada segelten, wanderten beispielsweise zwei Drittel über Liverpool aus. Die Zahl der jährlichen Durchwanderer entsprach demnach durchschnittlich einem Drittel der ortsansässigen Bevölkerung.

Ledigenheim Stuttgart, Villastraße 1

Haus der Tuchmacherzunft, Meißen, 1523