Schlafburschen
Schlaf in Schichten
Zur Zeit der Hochindustrialisierung drängten unzählige Menschen in die Metropolen. Der hierdurch zunehmend knappe Wohnraum wurde stetig teurer, so dass viele Familien die Miete kaum mehr aufbringen konnten. Jede zusätzliche Einnahmequelle war willkommen, ja manchmal unentbehrlich. Ungenutzte Betten in Privathaushalten wurden daher stundenweise an Fremde (meist tagsüber an Schichtarbeiter) vermietet. So etablierte sich das Schlafgängerwesen.
Wie sich unschwer vorstellen lässt, führte das Schlafgängerwesen zur zunehmenden
Verschlechterung der Wohn- und Lebensqualität. Die ohnehin mangelnde Privatsphäre wurde zusätzlich schwer gestört, zumal bei der deutlich strikteren Moral der Kaiserzeit. Aber auch der Schlafgänger selbst litt unter der Situation, nirgends wirklich „zuhause“ zu sein. Er durfte die restliche Wohnung (Küche und Stube) gewöhnlich nicht mit nutzen und hatte auch keinen Familienanschluss. Doch die finanzielle Situation zwang breite Bevölkerungsschichten zu dieser Notlösung (im wahrsten Sinne des Wortes), so dass z.B. in Berlin um 1875 fast ein Viertel aller Wohnungen mindestens einen Schlafburschen beherbergte. In einigen Fällen wurde dasselbe Bett sogar an zwei verschiedene Schlafburschen nacheinander vermietet.
Im nördlichen Ruhrgebiet wohnten 1893 28% der Bergarbeiter – und die Bergarbeiter waren im allgemeinen im Wohnungsbereich sogar besser versorgt als die übrigen Arbeiter – als Untermieter oder hatten als sogenannte Schlafgänger nur ein Bett gemietet, das sie sich umschichtig mit anderen teilen mussten. Als überbelegt galt zu dieser Zeit eine Wohnung von Staatswegen erst dann, wenn sechs oder mehr Personen pro heizbarem Zimmer oder Wohnraum untergebracht waren. Wie man sich vorstellen kann, waren Privatheit und Intimität – und damit ein Zuhause – unter solchen Umständen nicht möglich.
Das Schlafgängerwesen ist eine Form der Untervermietung, die uns heute gänzlich fremd ist. Mit einer WG unserer Tage lässt sich die Situation in diesen Wohnungen jedenfalls nicht einmal ansatzweise vergleichen. Die missliche Lage der Betroffenen wurde auch damals schon von vielen als unzumutbar erkannt und war sicherlich ausschlaggebend für die Gründung verschiedener Heime.
Autor: Juckel