Wohnungsbau und Stadtentwicklung
in der Kaiserzeit
Nach dem großen Brand im Jahre 1842 wurde in Hamburg eine Kommission zur Qualitätsverbesserung im Wohnungsbau ins Leben gerufen. Diese hat, nachdem die zuerst erlassenen, strengeren bau- und feuerpolizeilichen Vorschriften nicht zu einer Verbesserung geführt hatten, nach 23-jähriger Beratungszeit im Jahre 1865 schließlich ein neues Baupolizeigesetz verabschiedet. Der Geltungsbereich war jedoch vorerst auf die innere Stadt und einige Vororte begrenzt (vgl. Nörnberg/Schubert 1975, S. 66). Nach den Normen des Baupolizeigesetzes von 1865 entstand ein neuer Typus des Wohnungsbaus, der sich nach der Verabschiedung des Baugesetzes von 1882 auch im gesamten Stadtraum für besonders tiefe Grundstücke durchsetzte. Es ergaben sich Gebäudezeilen im Blockinneren, die entweder als Sackgassen (Terrassen) oder als Durchgänge (Passagen) ausgebildet waren. Die Terrassenbauweise galt wegen der guten Ausnutzung von tiefen Grundstücken und wegen der Schaffung von Kleinstwohnungen als optimal und wurde von Seiten der ers- ten Reformer als positiv bewertet. (vgl. Funke 1974, S. 56)
1881 ergaben sich mit den Verhandlungen um den Zollanschluss Ham- burgs an das Deutsche Reich wesentliche stadträumliche Veränderungen. Um mit dem Zollanschluss die bisherigen Vorteile des zollfreien, internatio- nalen Außenhandels durch den Freihafenstatus der Gesamtstadt nicht ganz aufzugeben, wurde ein Teil des Hafens als Freihafen belassen. Im neuen Freihafengebiet sollten auch Speicherflächen geschaffen werden. Dies ging zu Lasten von 24.000 Menschen, die auf den Kehrwieder-Wandrahm-Inseln, also im Freihafengebiet, lebten. Es entstand von 1881 bis 1888 die noch heute als Gebäudebestand und unter Denkmalschutz stehende Speicherstadt (vgl. Nörnberg/Schubert 1975, S. 126). Der Zollanschluss sorgte nicht nur für den
Abriss von Wohnraum, er veränderte auch die Arbeitsverhältnisse im Hafen. Wohnten früher viele Arbeiter direkt im oder neben dem Hafengebiet, so hat- ten sie nun weite Wege zurückzulegen. Die ehemaligen Bewohner der Speicherstadt wurden zum größten Teil in die Stadtteile Eimsbüttel, Barmbek und Hammerbrook umgesiedelt (vgl. Harms/Schubert 1998, S. 26).
Der Wirtschaftsaufschwung und der Urbanisierungsprozess in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts sorgten in Hamburg für einen erneuten An- stieg der Einwohnerzahlen. Neu erschlossene Stadtteile vor den ehemaligen Toren der Stadt konnten wegen der hohen Mieten und wegen der Größe der Wohnungen nur bedingt für eine Entspannung auf dem Wohnungsmarkt sorgen. Dies hatte zur Folge, dass viele Zugezogene versuchten, als Untermieter und Schlafgänger eine günstige Bleibe in der Altstadt nahe den Arbeitsplät- zen am Hafen zu finden. Vor allem diese gewachsenen Arbeiterquartiere wurden 1892 von der zweiten Stadtkatastrophe Hamburgs, der Choleraepidemie, heimgesucht. Zwischen August und November 1892 erkrankten ca. 17.000 Menschen an der Cholera, von denen fast die Hälfte starb. Der Ausbruch einer derartigen Epidemie war kaum mehr für möglich gehaltenen worden und brachte Hamburg und vor allem die Hamburger Wohnverhältnisse in die öffentliche Kritik. Für die vom Handel abhängige Stadt war dies eine wirtschaftliche Katastrophe. Hambur- ger Güter und Erzeugnisse wurden im In- und Ausland gemieden, sodass der Schiffsverkehr auf der Elbe fast völlig zum Erliegen kam (vgl. Harms; Schubert 1998, S. 29). Die Choleraepidemie rückte die Wohnungsfrage in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Wegen des verstärkten Auftretens der Krankheit in den dichter besiedelten Stadtteilen, in denen vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten wohnten, galt es als erwiesen, dass sie im Zusammenhang mit schlechten und unhygienischen Wohnverhältnissen stand.
Eine Konsequenz auf städtebaulicher und wohnungspolitischer Ebene war die Verabschiedung von Bebauungsplänen noch im selben Jahr. Diese halfen, die Verteilung der Nutzungen im Stadtgebiet besser zu steuern. Darüber hinaus wurde eine Senats- und Bürgerschaftskommission zur Prüfung der Gesundheitsverhältnisse in Hamburg eingesetzt (vgl. Wiek 2002, S. 24). Nachdem diese abgeschlossen war, wurde fünf Jahre später eine weitere Kommission zur Verbesserung der Wohnverhältnisse gebildet. Diese erarbeitete die folgenden Forderungen:
• daß ungesunde Wohnungen beseitigt werden sollen,
• daß für den Wiederaufbau gesunder Wohnungen, evtl. mit Staatsopfern [... ], d.h. durch von den Staatsbehörden zu
treffende Maßregeln, gesorgt werden soll[en],
• daß neue Wohnungen tunlichst für dieselbe Bevölkerungsschicht
an der alten Stelle errichtet werden sollen. (Schubert 1987, S. 597)
Zur Durchsetzung dieser Ziele wurde 1898 das Wohnungspflegegesetz verabschiedet. Es bot eine Handhabe, Wohnungen per Gutachten für unbewohnbar zu erklären. Im selben Jahr folgte der Beschluss zur Förderung von Kleinstwohnungen und 1900 die Verabschiedung eines Flächensanierungsprogramms. Von den ab 1900 durchgeführten Flächensanierungen waren mehr als 60.000 Menschen betroffen. Allerdings wurden die geforderten Ziele, nämlich der Erhalt der Stadtteile und der Wiederaufbau der Wohnungen an der selben Stelle meist nicht erfüllt. Insbesondere in den innerstädtischen Sanierungsgebieten der Altstadt nutzte der Senat – wie schon nach dem Brand von 1842 - ein zweites Mal die nun geräumten Flächen für die Stadterneue- rung. In diesem Zuge entstanden die Mönckebergstraße, eine der Haupteitkaufsstraßen in der Innenstadt sowie zahlreiche Geschäfts- und Kontorhäu- ser. Die ehemaligen Bewohner wurden verdrängt und mussten sich nun in den Stadterweiterungsgebieten neuen Wohnraum suchen (vgl. Harms/Schubert 1998, S. 30).
Maßgeblich für die Entwicklungen in der Stadt war die Baupolizeigesetz- gebung. Unabhängig von den Sanierungsbestrebungen sah sich der Hamburger Senat 1893 gezwungen, eine Neufassung des Baupolizeigesetzes zu erlassen, was heute in etwa einer Bauordnung entsprechen würde. Im Gegensatz zum alten Baupolizeigesetz (Erstfassung von 1865 und in einer überarbeiteten Fassung von 1882) stand die Verbesserung der Wohnqualität im Fokus der Neufassung. Regelungen zur Raumnutzung, zu Abstandsflächen, zur Größe von Höfen und Lichtschächten, zur Anzahl der Wohnungen pro Treppenhaus und zu den Gebäudehöhen sollten eine lichtere Bebauung sowie die Belüftung und Belichtung der Wohnungen gewährleisten (vgl. Wiek 2002, S. 28). Jedoch enthielt das Baupolizeigesetz von 1893 Ausnahmeregelungen, die es möglich machten, hochverdichtet zu bauen und dennoch dem Gesetz zu entsprechen. Der Paragraph 36 besagte beispielsweise, dass auf die eigent- lich erforderliche Belichtung eines Raumes verzichtet werden konnte, wenn die übrigen Räume einer Wohnung die Anforderungen erfüllten.
Das Baupolizeigesetz von 1882 und die Novelle von 1893 hatten - entgegen dem eigentlichen Plan - zur Folge, dass Grundstücke mit Hilfe von engen Lichthöfen (auch Nebenhöfe genannt) und Schlitzen sehr tief bebaut werden konnten (vgl. Funke 1974, S. 50). Es entwickelte sich ein neuer Typ des Hamburger Geschosswohnungsbaus, der vor allem bei kleinen Wohnungen zu schlecht belüft- und belichtbaren Grundrisslösungen führte. Dieser Bautyp ging mit der Bezeichnung »Hamburger Schlitzbau« in die lokale Baugeschich- te ein, wobei es sich jedoch um einen eher unbeabsichtigt entstandenen und nicht explizit von Architekten entworfenen Gebäudetyp handelte.
Neben der sich durchsetzenden Schlitzbauweise wurden nach wie vor Blockrandbebauungen mit Terrassen bzw. Passagen im Hinterhof realisiert. Für manche besonders tiefe Grundstücke waren diese die einzige Möglichkeit zur optimalen Ausnutzung des Grundstücks (Funke 1974, S. 56).
Der Innenstadtbereich war zum Ende des Jahrhunderts vollständig bebaut und die nach dem Sanierungsplan von 1893 zur Verfügung stehenden Flächen wurden nicht für den Wohnungsbau verwendet. Dies hatte zur Folge, dass die erforderlichen Wohnviertel in den Stadterweiterungsflächen außerhalb des Wallrings entstanden. Diese Gebiete wurden zumeist von privaten Terraingesellschaften erschlossen, parzelliert und mit Mietswohnungsbau- ten bebaut. 1894 wurden die 13 inneren Vororte Hamburgs sowie die Vorstadt St. Pauli verwaltungstechnisch zu Stadtteilen erklärt. Anlagen und Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes spielten für die Erschließung und Bebauung der entfernten Stadtteile eine wichtige Rolle (vgl. Wiek 2002, S. 22).
Die Terraingesellschaften konzentrierten sich auf die Produktion von großen Wohnungen, obwohl noch immer ein hoher Bedarf an Kleinstwohnungen bestand. Dies war allerdings auch der Neufassung des Baupolizeigesetzes von 1882 geschuldet. Hierin wurde die Anzahl der Wohnungen, die an ein Treppenhaus schlossen, auf zwölf begrenzt Somit hätte man sich bei einem Bau mit vier Arbeiterwohnungen pro Etage auf eine Gebäudehöhe von drei Geschossen beschränken müssen. Dies hätte aber eine schlechtere Ausnutzung des Baugrundes und somit weniger Gewinn bedeutet. Deshalb hat sich im Grunde ein Bautyp mit zwei großen Wohnungen pro Etage fortan durchgesetzt.
Die Großwohnungen waren also für die Investoren lukrativer, nicht nur in der Errichtung sondern auch dadurch, dass sie die Gebäude nach Fertigstellung verkaufen konnte, wodurch sie nicht von einem eventuellen Leerstand betroffen waren (Nörnberg/Schubert 1975, S. 47). Die anmietenden Arbeiterfamilien wiederum konnten sich diese, für sie zu großen, Wohnungen nur durch die als unsittlich geltende Schlafgänger- und Aftervermietung finan- zieren (Nörnberg/Schubert 1975, S. 59). Die öffentliche und parlamentarische Debatte um die Wohnraumversorgung wurde durch diese Praxis weiter angeheizt.
Dennoch blieben Stadterweiterung und Wohnungspolitik bis zum ersten Weltkrieg vorwiegend Gegenstand von unkoordinierten Privatinitiativen (vgl. Harms/Schubert 1998, S. 31).
Auch hatten die frühen Genossenschaftsbewegungen in Hamburg bis zum Ersten Weltkrieg einen nur sehr geringen Einfluss auf den Wohnungsbau der Stadt. Erst seit der Zeit der Berufung des Baudirektors Fritz Schumacher und der reformorientierten Gesetzgebung in der jungen Weimarer Republik nahm die Stadt selbst mehr Einfluss auf die Stadtentwicklung und den Wohnungsbau.