Die Neustadt nach 1918
Das Ledigenheim und sein Stadtteil
Am 16. März 1919 finden die ersten freien und gleichen demokratischen Bürgerschaftswahlen in Hamburg statt. Dem voran geht die Umwandlung der konstitutionellen Monarchie in eine parlamentarisch - demokratische Republik auf Reichsebene, mit der auch der erste Weltkrieg beendet wird. Bis 1918 galt hier ein 5-Klassen-Wahlrecht. Die von der SPD geführte Regierung beginnt sich an den Bedürfnissen des »kleinen Mannes« zu orientieren. Man will den Menschen ein gesundes und menschenwürdiges »Leben in Luft und Licht« (Prof. Fritz Schumacher) ermöglichen. Hierzu werden auch neue Bauverordnungen erlassen. Wohnung werden an das Wasser- und Abwassernetz angeschlossen, die Einführung von elektrischem Licht in allen Haushalten wird forciert.
Es ist auch die Zeit der Schulreformbewegung. Schulen werden gebaut, in denen auch Arbeiterkindern Englisch und Geometrie vermittelt wird. Für einundzwanzig Reformschulen wie zum Beispiel die Lichtwarck-Schule werden die Lehrpläne zur Disposition gestellt.
In die Zeit unmittelbar zuvor fällt auch der Bau des Ledigenheims in der Rehhoffstraße und anderer neuartiger Wohnanlagen, wie etwa 1910 die Gartenstadt in Wandsbek. Themen wie Naherholung und »Freizeitgestaltung« kommen auf und münden in groß angelegten Parks und Badeanstalten. Neue Straßenachsen und die so genannten Versorgungsringe, die die Stadt zusammenführen sollen, werden angelegt. Ähnliches finden wir auch bei den Kanälen und Wasserwegen. Die »Fleete« werden in der heutigen Form befestigt und hergerichtet. Entscheidend für die Entwicklung dieser Phase, in der das Hamburger Stadtbild maßgeblich verändert wurde, ist der Oberbaudirektor Fritz Schumacher, der ab 1906 vierundzwanzig Jahre lang im Amt war. Spätere Beispiele seiner Bautätigkeit sind Kontorhäuser, wie das Chilehaus (1924), ganze Wohnviertel wie die Jarrestadt (1929) und die Dulsberg-Siedlung (1924-30).
Diese grundlegende Wandlung der Stadt fällt in die Zeit nach dem Krieg, in der gerade in finanzieller Hinsicht ungünstige Bedingungen herrschten. Ermöglicht wurde die radikale Neuordnung durch die Tatsache, dass die Baugrundstücke zumeist städtisch waren und mit der Kombination von Stahlbeton und Klinkersteinen relativ günstige Materialien verwendet wurden. Zudem waren Arbeitskräfte vorhanden und der Lohn sehr gering. Das Ledigenheim in der südlichen Neustadt ist ein Kind dieser Zeit und spiegelt deren Geist, aber auch deren soziale und gesellschaftliche Bedarfe wider, stellte es doch ein Versuch dar, auf die sozialen Verhältnisse einzugehen.
Die Zeit und die Verhältnisse spiegeln sich auch in der Bewohnerschaft. So finden wir am Anfang einfache Arbeiter und ein Haus, das als Übergangsdomizil für Neuankömmlinge in Hamburg dient. Während der Weimarer Republik wohnten im Haus laut mündlicher Berichte aus der Nachbarschaft auch Polizeikadetten und Feuerwehrmänner der jeweils nahe liegenden Wachen: Dies wäre ein weiterer Beleg für die allgemeine Einbindung des Hauses im Stadtteil.
In der Zeit des Nationalsozialismus soll das Ledigenheim, so gehen die Berichte weiter, von der Gestapo genutzt worden sein. Die Zimmer sollen in dieser Zeit mit jeweils zwei Hochbetten bestückt worden und so je vier Mann beherbergt haben. Immerhin hätte das Haus bei dieser Vier-Bett-Belegung ca. 480 Personen beherbergen können. Diese Überlieferungen klingen, wenn gleich auf mündliche Aussagen gestützt, plausibel. Die Gestapo hatte ihr Hauptquartier bis 1943 an der Stadthausbrücke und könnte insofern durchaus Bedarf an einer nahe gelegenen kasernierten Unterbringung ihrer Mitarbeiter gehabt haben, insbesondere am Rande des strategisch und wirtschaftlich für das gesamte Reich wichtigen Hafengebietes. Von hier sollen Einsätze in die nähere Umgebung ausgegangen sein, wahrscheinlich einerseits um die hier traditionell stark vertretene und gut organisierte Arbeiterbewegung mit ihren sozialistischen und kommunistischen Verbänden zu zerschlagen und andererseits die jüdische Bevölkerung zu verfolgen. Die vielen »Gedenk-Stolpersteine« in der Gegend sind heute ein Zeugnis der großen Zahl der Opfer der politischen und ethnischen Säuberungen der Nazizeit. Unterstützt wird die Aussage bezüglich der Nutzung durch die Gestapo auch dadurch, dass wir nach dem 2. Weltkrieg eine Neumöblierung im Haus vorfinden und keine oder wenige der ursprünglichen Möbel mehr vorhanden sind. Die Betten jener Bewohner, die hier seit den 60er Jahren leben sind andere, als die, die wir auf historischen Aufnahmen sehen. Sollten sich diese Berichte bestätigen, wäre das Haus mit der Vernichtung des jüdischen Lebens und der jüdischen Kultur in der Neustadt historisch verknüpft. Dieser Abschnitt der Geschichte des Ledigenheims sollte genauer überprüft und aufgearbeitet werden. Das Haus selbst kam im zweiten Weltkrieg, im Juli/August 1943 bei der Operation »Gomorrha«, bei der rund ein Drittel aller Wohngebäude in Hamburg durch Bombeneinschläge zerstört wurde, zu Schaden.
Die Neustadt hat sich in der Zeit des Nationalsozialismus nochmals stark verändert. Zum einen durch weitere großflächige Abrisse und »Sanierungen«, zum Beispiel um den Hummelbrunnen und das »Memel-Haus« in dem für diese Zeit recht typischen Heimatstil, zum anderen durch die immensen Kriegsschäden und den Wiederaufbau. In der Rehhoffstraße ist das heute vor allem an der veränderten Dachform zu erkennen. Das ursprüngliche Dach wurde nach dem Krieg bislang nicht wieder hergestellt.
Nach Ende des Krieges wurde das Ledigenheim frei vermietet an Menschen aller Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten. In der Regel wohnten hier Seemänner und Hafenarbeiter, aber auch Polizeibeamte der Wachen 12 und 13 in der Martin-Luther-Straße, Zollbeamte vom Baumwall und Elbtunnel, Mitarbeiter der Stadtreinigung und Feuerwehrmänner aus der Admiralitätsstraße. Die Nähe zum Hafen, die günstigen Mieten und die gewachsene Hausgemeinschaft machen das Haus im Stadtteil sehr beliebt. Es ist der Beginn der Wirtschaftswunderjahre. Der Hafen brummt, und in der Rehhoffstraße herrscht Hochbetrieb. Mit der Globalisierung und der Internationalisierung der Seefahrt kommen Menschen unterschiedlichster Nationalitäten nach Hamburg und damit auch ins Ledigenheim. So ziehen beispielsweise in den 1960er- und 1970er-Jahre erstmals Menschen aus Asien und Afrika ein. Das Aufkommen von Fracht- oder Schiffscontainern im Güterverkehr verändert den Ablauf im Hafen und die Hafenarbeit. Die Schiffe werden immer größer, und auch der Hafen wächst. Neue und größere Flächen werden für die Container benötigt. Dadurch verlagert sich der Hafen immer weiter nach Süden, weg aus der Neustadt. Diese Entwicklungen haben auch auf die Bewohnerschaft im Ledigenheim Einfluss. Seit dieser Zeit finden sich zunehmend auch andere als seefahrtsbezogene Berufsgruppen im Haus.
Mit der Verlagerung des Hafens kommt es zu einer Neuausrichtung des Stadtteils sowie zu erneuten Großabrissen in den 1960er bis 1980er Jahren.
Die Neustadt entwickelt sich zum beliebten Standort großer Unternehmen wie dem Springer Verlag, Unilever und Gruner & Jahr. Zu den Tausenden von Arbeitern, die früher täglich im Hafen arbeiteten, kommen tausende Angestellte hinzu. Diese wollen ebenfalls arbeitsplatznah wohnen und drängen in den Stadtteil. Ein Teil von ihnen bringt die zum Erwerb von Eigentum notwendigen Mittel mit und kauft eine Vielzahl von Wohnungen in der Gegend. Die Mieten und Grundstückspreise steigen in der Folge. Auch wird die Neustadt für große Immobilienunternehmen attraktiver. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die durch die Sanierungsgeschichte angelegten Grundstücksgrößen für Großanleger gute Möglichkeiten bieten, zusammenhängende und dadurch leichter handhabbare Objekte anzukaufen. Diese Entwicklung bleibt auch von der Politik nicht unbemerkt, vollziehen sich doch ähnliche Vorgänge vielerorts in der Stadt. Sie reagiert in der Neustadt 1995 durch die Einführung der sozialen Erhaltungsverordnung in Kombination mit der so genannten Umwandlungsverordnung. Sie dienen dem Schutz der angestammten Wohnbevölkerung und sollen die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen verhindern, was auch gelingt, wie sich am Beispiel des Ledigenheims zeigt. Hier kaufte 2009 ein dänischer Investor einen ganzen Häuserblock und reichte für diesen beim Bezirksamt Umbaupläne ein. Diese sahen unter anderem eine Umnutzung des Ledigenheims in der Rehhoffstraße vor und wurden mit Verweis auf die Verordnung vom Bezirksamt abgelehnt. Die angestammte Bewohnerschaft konnte so wohnen bleiben und eine Verdrängung verhindert werden.
Das Haus selbst wird 2012 als Zeuge der Zeitgeschichte, insbesondere jedoch der Sozial- und Baugeschichte des eingehenden 20. Jahrhunderts und als Zeugnis der Wiederaufbauleistung nach dem 2.Weltkrieg unter Denkmalschutz gestellt. Somit erhält die Sozialstruktur einen ergänzenden Schutz.
Allerdings wird sich die Wirksamkeit und der Erfolg dieser beiden Maßnahmen erst noch zeigen müssen – und auch, ob sie ausreichen werden: die Unterschutzstellung geschieht in einer Situation, in der das Haus bereits zu einem Ort der Vernachlässigung und der sozialen Not geworden ist. Insofern stellt sich hier - wie im gesamten Stadtteil - nicht nur die Frage nach dem Schutz und der Wahrung, sondern vielmehr jene nach der Wiederherstellung angemessener sozialer Verhältnisse.
Ein großer Dank gilt Michael Ackermann für die Mitilfe an diesem Text.